Anruf im Krankenhaus
Hallo du Arme, wie geht’s, beginne ich mein Telefonat mit einer Bekannten. Sie liegt mit einer unklaren und ziemlich schlimmen Darmgeschichte im Krankenhaus.
Meine schlichte Frage beantwortet sie mit einer detailgenauen Schilderung der Untersuchungsabläufe heute Morgen. Ich werde darüber informiert, zu welcher Uhrzeit die Schwester das Krankenzimmer für die morgendliche Routineversorgung betrat, dass dreißig Minuten später der Arzt das Kontrastmittel brachte, dass selbiges entgegen ihrer Erwartung weiß und nicht klar war und dass in den nächsten zwei Stunden die Untersuchung beginnen wird. Nun folgt eine detaillierte Wiedergabe des vom Arzt mitgeteilten Untersuchungsablaufs. Das alles erzählt sie mir – einer Person, die zu einem technischen und medizinischen Geschehen kaum einen Zugang hat, dafür mehr zur mentalen Seite der Menschen. Ich höre geduldig zu, schließlich ist sie krank und Kranke brauchen Zuwendung. Gelegentlich spüre ich ein Abschweifen meiner Gedanken, dem ich mit interessiert scheinenden Hm und Ach entgegenwirke. Wir beenden das Telefonat, nachdem sie ihre Informationen übermittelt hat. Wie es ihr geht, weiß ich nicht.
Wir haben lange miteinander gesprochen und dennoch war das Gespräch unbefriedigend. Vielleicht hätte sie mir gerne noch eine Beschreibung des Dialekts oder der äußerlichen Erscheinung ihres Arztes mitgeteilt, vielleicht noch Inhalte der Gespräche mit ihrer Bettnachbarin. Möglicherweise signalisierte ihr meine Verhalten, erzähl’ nicht so viel, es interessiert sie nicht.
Ein klassischer Fall von Kommunikation auf zwei verschiedenen Ebenen, werden wir als Wissende über Kommunikationsabläufe sagen. Wir haben uns nicht getroffen, die eine ist auf der Sach-, die andere auf der Gefühlsebene.
Was hier stattgefunden hat, ist ein anschauliches Beispiel für die Jungsche Psychologie der Typen. Jung beschreibt unterschiedliches Verhalten beim Wahrnehmen und Beurteilen. Diese auf empirischen Beobachtungen basierende Typenlehre wurde weiter beforscht und ist uns heute als MBTI, Myer-Briggs-Typenindikator, oder als GPOP, Golden Profiler of Personality, bekannt. Diese Systeme bieten Orientierung beim Zuordnen der so schwer zu klassifizierenden Menschen zu bestimmten Typen, sie sind Hilfe, um sich im Dschungel der Individualität überhaupt ein bisschen zurecht zu finden.
Gewiss – der Mensch ist differenzierter, feiner, einmaliger. In seiner Individualität und seiner letzten Feineinstellung ist er wohl kaum erklärbar.
Und gerade deshalb wäre es wünschenswert, dass wir uns, die wir täglich mit dieser Spezies zu tun haben, mit den Grundformen der Persönlichkeit beschäftigen. Es würde uns möglicherweise toleranter gegenüber anderen Einstellungen und Bedürfnissen machen, es könnte helfen, unsere guten Ideen und Vorschläge überzeugender zu transportieren und würde wohl bei mancher Arbeitsgruppe zu mehr Verständnis untereinander und zu schöpferischem Miteinander führen.
Da gibt es Menschen, die uns begegnen mit einer Art, die Dinge unverschnörkelt zu sehen. Wir nehmen eine Bodenständigkeit wahr, die Personen scheinen im Hier und Jetzt verhaftet, von einem wohltuenden Realitätssinn umgeben. Wenn sie zu uns sprechen, ist ihre Sprache frei von Metaphern und blumigem Umschreiben. Wir verstehen, was sie sagen und sie vermitteln uns ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit.
In anderen Begegnungen wiederum hören wir von Dingen, die wir so noch nie vernommen haben und erleben inspirierende Gedankengänge. Anscheinend sehen diese Menschen mehr als wir. Sie haben vermutlich etwas, das uns fehlt. Gelegentlich führen sie uns gedanklich in eine Zukunft, von der wir sehr weit entfernt waren.
Jung spricht hier von der Wahrnehmung über die Sinne, also von dem, was wir hören, sehen, riechen, schmecken, anfassen und von der Wahrnehmung über die Intuition, dem so genannten sechsten Sinn.
Nun ist es nicht so, dass einem intuitiven Menschen seine Sinne verloren gegangen wären und der andere keine Intuition besäße. Vielmehr ist es so, dass der eine sich mehr auf seine Intuition und der andere sich mehr auf seine Sinne verlässt.
Es besteht die Annahme, dass uns im Laufe unserer Entwicklung die Intuition teilweise verloren gegangen ist. In den letzten Jahrhunderten hat der wissenschaftliche Fortschritt Einzug gehalten und vielfach vertrauen wir der Wissenschaft. Daraus gewinnen wir Sicherheit und unter anderem auch die Fähigkeit, uns vor Scharlatanerie zu schützen.
Ein wenig Freiraum für Intuition ist jedoch wünschenswert. Intuition, umgangssprachlich auch Bauchgefühl genannt, ist die Fähigkeit Einsichten zu erlangen oder Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, ohne sich der Logik des Verstandes zu bedienen.
Hoch intuitive Menschen können Ereignisse voraus sagen, auf Anhieb eine stimmige Entscheidung treffen, Fähigkeiten und Eigenschaften von Menschen erkennen, ohne sachliche Informationen dafür zur Verfügung zu haben. Ja, gelegentlich treffen sie sogar Entscheidungen entgegen aller Beweislage und diese Entscheidungen stellen sich zum Erstaunen auch noch als richtig heraus.
Intuition arbeitet schneller als der Verstand. Wie ein Blitz saust sie durch den so genannten Mandelkern und sendet ein Signal an das Großhirn: Achtung, Gefahr! Achtung, stimmt so nicht! Achtung, geht auch anders! usw. Wir wissen nicht, warum uns plötzlich dieses Signal gesendet wird. Eine Art Grobscan soll im Mandelkern stattfinden. Ein Scan über unseren zur Verfügung stehenden Erfahrungsschatz, sekundenschnell und ohne erkennbare Struktur.
Wer kennt solche Situationen nicht: Da spricht jemand von einem unguten Gefühl oder behauptet, etwas wird gut gehen oder auch nicht. Wir fragen, wieso derjenige zu dieser Erkenntnis kommt und er kann es uns nicht erklären, spricht möglicherweise von seinem Bauchgefühl.
Intuition kann ein wichtiger Helfer sein, zum Beispiel zu erspüren, was wir nicht richtig machen oder versäumen, welcher Partner für uns der passende ist, mit welcher Entscheidung es uns gut gehen wird. Darum sollten wir vor allem eines nicht tun: Die Intuition als Humbug zu verdammen und schon gar nicht die Intuitiven als Spinner zu missachten. Ratsam ist es eher, die eigene Intuition wahrzunehmen, ihr Freiraum zu geben und sie zu nutzen.
Die mit den Sinnen Wahrnehmenden können lernen, auf das eigene Bauchgefühl zu achten sowie die Bedenken und Äußerungen der Intuitiven aufzunehmen, um sie als wertvolle Hinweise zu diskutieren. Die intuitiv Wahrnehmenden können sich an den pragmatischen Fragen nach der Begründung erfreuen und dabei möglicherweise ihren Intuition analysieren.
Das braucht vielleicht etwas mehr Sensibilität und die Wertschätzung der anderen Wahrnehmung, kann jedoch am Ende zu tragbaren Entscheidungen führen, weil alle Potenziale beteiligt waren, das Wissen und der Erfahrungsschatz.
Nun ist die Art der Wahrnehmung das eine Unterscheidungsmerkmal. Ein anderes ist, wie wir unsere Entscheidungen treffen – aufgrund von Analyse oder von Gefühlen und Werten.
Menschen, die ihre Entscheidungen bevorzugt auf der Basis von Analysen treffen, gelingt es, Situationen sachlich, ja eher nüchtern zu betrachten. Diese Menschen neigen dazu, nach Tatsachen zu fragen und analytisch zu kommunizieren. Sie schildern gern Handlungsabläufe und Fakten.
Personen, deren Entscheidungen von Gefühlen und Werten bestimmt sind, lassen sich von ihrem Wertekodex und von Empfindungen leiten und neigen dazu, dies zum Inhalt der Kommunikation zu machen. Vorteile des ersten Typs sind sachlicher Abstand und faktische Analyse, des anderen Empathie und Mitgefühl.
Doch wie bereits erwähnt, existiert auch hier kein Schwarz und Weiß, kein so oder so. Natürlich gibt es auch Menschen, die bevorzugt faktisch entscheiden und dabei empathisch mitfühlen und solche, die gefühlsbetont sind und sich um sachliche Entscheidung bemühen.
Und da sind wir wieder beim Krankenhaustelefonat. Meine kranke Bekannte mit hohen analytischen Fähigkeiten möchte von Handlungsabläufen berichten. Ich dagegen möchte etwas von Eindrücken und Befindlichkeiten hören.
Wie schön wäre unser Gespräch verlaufen, wenn ich mich meiner Bekannten gegenüber verständlich gemacht hätte.
Vielleicht so: Du sag mir zuerst, wie du dich fühlst und dann ein bissel, was sie da drinnen mit dir machen.
Elka Baudis